6. Nachhaltigkeit

Max ThiniusFuturologe - Sprecher FORUM Lebensmittel - Netzwerk Nachhaltigkeit im bevh

Inhalt

Wird Nachhaltigkeit sich durch Digitalisierung verändern?

Sehr sogar, denn durch Digitalisierung haben wir vollkommen neue Möglichkeiten für Transparenz. Man kann das schon bei den Millennials sehen. Diese Generation ist die erste die es von Anfang gelernt hat, bestehende Themen zu hinterfragen. So zum Beispiel auch Bio-Siegel. Sie akzeptiert nicht einfach einen Zustand oder ein Produkt, sie hinterfragt. Und sie kennt die Möglichkeiten wie das funktioniert. Auf diese Weise schafft sich diese Zielgruppe (und alle die danach kommen) ein zunehmend „eigenes Wertesystem“ für Produkte und Dienstleistungen sowie auch viele gesellschaftliche Werte. Diese orientieren sich zwar an einer gesamtgesellschaftlichen Scala, sind aber individuell.

So wird es auch nicht mehr „die“ Nachhaltigkeit geben, sondern zunehmend eine individuelle für die Region, das Umfeld oder die dort lebenden Menschen angepasste Form der Nachhaltigkeit. Man wird schauen, was für die jeweilige Struktur am besten funktioniert und wie man Menschen nicht überfordert, aber dennoch das mögliche ermöglicht.

Nudging von Menschen wird dabei eine große Rolle spielen. Denn, und das zeigen uns die heutigen Nachhaltigkeitsthemen, Menschen wollen, gerade zu diesem Thema, nicht missioniert werden. Sie suchen nach vertrauten Absendern, die ihnen ein für sie nachvollziehbares Pensum an Möglichkeiten zur Umsetzung offerieren. Digitale Strukturen sind hierfür hervorragend geeignet.

Wie sieht meine nachhaltige Zukunft im Alltag aus?

Wir werden viel sicherer erkennen, welche Produkte, Dienstleistungen und Tätigkeiten tatsächlich nachhaltig sind und welche nicht. Das wird unser Bewusstsein für Nachhaltigkeit verändern, da wir die Auswirkungen unseres Tuns immer weiter einsehen können. Das wird mitunter auch dazu führen, dass es zukünftig eine Nachhaltigkeitssteuer gibt. Also Produkte nach ihrem Einfluss auf die Umwelt und Gesellschaft besteuert werden oder nach dem Verbrauch von Rohstoffen. Damit wird Nachhaltigkeit weniger über Siegel, sondern über „Nudging-Prozesse“ in unserem Alltag gelebt.

Kann Digitalisierung überhaupt nachhaltig sein - bei dem Rohstoffverbrauch um digitale Strukturen herzustellen?

Das ist tatsächlich „aktuell“ ein Problem. Allerdings dürfen wir nicht vergessen auf welcher Entwicklungsstufe der Digitalisierung wir uns befinden. Auch zu Beginn der Industrialisierung sind uns Dampfmaschinen um die Ohren geflogen. Die Digitalisierung hat unseren Alltag auch erst zu 14% erreicht. Die Industrialisierung hat am Ende des Tages 100% geschafft. Viele Innovationen zu Produkten werden noch kommen. Dabei zeigt sich hier ein weiterer Vorteil der Digitalsierung. Bereits erste und „einfache“ Produkte wie ein Smartphone, können mit wenig Aufwand in einer Qualität und Leistungsfähigkeit hergestellt werden, wie es in der Industrialisierung ein halbes Jahrhundert gedauert hat. Das wird die Entwicklung von Lösungen für die Umweltprobleme die hinter Digitalisierung stecken, stark beschleunigen. Dennoch werden wir uns in der Übergangsphase mit diesem Thema sehr ernst auseinander setzen müssen. Schon um die Veränderungsprozesse gerade hier ebenfalls stark zu beschleunigen.

Wie wird Nachhaltigkeit 4.0 in Städte und Dörfer einziehen?

Wenn die digitale Revolution die gesamte Gesellschaft verändert und Leben 4.0 in unser aller Alltag einzieht, wie sieht es dann mit den Werten einer solchen Gesellschaft aus? Wie wird sich das Verhältnis zu Umwelt, sozialer Gerechtigkeit und Lebensqualität entwickeln? Welche Indikationen hat das auf die Entwicklungen im urbanen und ländlichen Bereich - gibt es da überhaupt Unterschiede?

Nachhaltigkeit wurde noch vor der industriellen Revolution als Idee geboren um die nachhaltige Forstwirtschaft zu etablieren und nur soviel Bäume zu schlagen, wie der Wald auch wieder nachwachsen lässt - um nicht irgendwann ohne Bäume dazustehen. Nachhaltigkeit hat ihren Ursprung faktisch also im ländlichen Bereich, allerdings wurden hier nur die Wälder gerodet um Siedlungen als frühe urbane Formen anzulegen. Und auch heute profitieren wir, am Ende des industriellen Zeitalters, vor allem im urbanen Raum von ländlichen Ressourcen. Beides scheint also eng verknüpft - aber steht es vielleicht hierdurch auch in Konkurrenz zueinander?

Das Prinzip der Nachhaltigkeit wurde in der gesamten ersten Hälfte der industriellen Entwicklung gar nicht und hinterher nur teilweise beherzigt. Das Ergebnis sehen wir am „Earth-Overshoot-Day“ der jedes Jahr weiter nach vorne rückt und uns zeigt, dass wir bereits heute die Ressourcen von zwei Planeten verbrauchen. Dabei droht das, bei aller guten Initiativen in Deutschland und weiten Teilen von Europa, ein noch größeres Problem zu werden, wenn Asien und Afrika aus dem weltwirtschaftlichen Winterschlaf zunehmend erwachen. Milliarden Menschen wollen dann die Insignien des Wohlstandes am eigenen Leib ausprobieren. Was man den Menschen gönnen muss, aber der Umwelt wird es nicht gefallen, da zunehmend Ressourcen für den Wohlstand von immer mehr Menschen aufgewendet werden müssen.

Digitalisierung wird uns mit der Möglichkeit, Transparenz in diese Entwicklung zu bringen, sehr aufschlussreiche Daten liefern und wir werden auch an der ein oder anderen Stelle gezielt einschreiten können. Ob wir aber diese globalgesellschaftliche Entwicklung über Umweltmaßnahmen in den Griff bekommen? Es verdichten sich bereits heute die Thesen, dass die 2°C Erderwärmung, die wir nicht überschreiten dürfen, nicht gehalten werden können. Aber sind vielleicht diese zwei Grad schon zuviel? Und haben wir überhaupt die notwendigen Daten? Das ökologische System ist wie Domino. Kommt ein Stein ins Wanken, kann das ungeahnte Kettenreaktionen auslösen, was mitunter schon passiert ist. Kann also Digitalisierung hier eine neue Perspektive bringen, außer in der Transparenz?


Nachhaltigkeit als ein gesamtgesellschaftliches Steuerelement.

 Es gibt viele Dimensionen von Nachhaltigkeit. Sie alle hängen zusammen. Wichtig ist zu verstehen, dass jede einzelne Handlung von uns einen Einfluss auf unsere Umwelt hat - im sozialen wie ökologischen und wirtschaftlichen Sinn. Grundsätzlich sollten wir uns angewöhnen integral zu agieren, also so, dass all unser Tun sogar einen möglichst positiven (förderlichen) Einfluss auf die Gesellschaft hat, denn je besser es der Gesellschaft um uns herum geht, desto besser geht es auch uns. Die Digitalisierung wird uns hier die notwendigen Indikatoren geben und, gemeinsam mit Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Bildung und Kultur entsprechende Konzepte erarbeiten, die uns „nudgen“ werden. Denn in der zukünftigen Nachhaltigkeit geht es nicht mehr um Siegel, sondern um echte Erkenntnisse die messbar sind. Diese kann man dann auch hervorragen besteuern - zum Beispiel im Hinblick auf ihren Einfluss auf die Umwelt oder den Verbrauch von Ressourcen.

Das gilt umso mehr für Unternehmen: sie haben den größeren Hebel. Je mehr sie eine sie umgebende Gesellschaft unterstützen, desto besser geht es der Gesellschaft, desto mehr Produkte werden langfristig aus ihr nachgefragt. Auch hier wird Nachhaltigkeit aber nicht mehr wie bisher als ideologischer Bestandteil der Unternehmenswerte gehandhabt, sondern, übersetzt in Zahlen, Daten, Fakten, ein integraler Bestandteil der Bilanz - der ganz normalen Bilanz, nicht der Öko-Bilanz. 

Interessant ist dabei, wie die Tradition von Nachhaltigkeit sich im ländlichen und urbanen Raum aktuell unterscheidet. Der anonymere urbane Raum nimmt das Thema erst in neuerer Zeit an. Das gilt auch für größere Unternehmen mit ihren vielen Büros in vielen Metropolen. Umweltkampagnen und Berichterstattung haben hier erst ein Bewusstsein geweckt. In ländlichen Regionen hört man hingegen schon lange von den Unternehmen: „Wenn wir hier nicht nachhaltig und im Einklang mit der Region agieren würden, gäbe es uns schon lange nicht mehr.“ Nachhaltigkeit scheint umso ausgeprägter, je weniger anonym die Umgebung ist. Da Digitalisierung die gesamte Anonymität von Nachhaltigkeit nimmt, wird sie sich massiv in unserem Alltag etablieren. Aber wie gesagt, nicht als ideologisches Thema, sondern als gesamtgesellschaftlich zentrale Steuerelement.


Digitalisierung ein nachhaltiges Bindeglied zwischen Land und Stadt?

An dieser Stelle kann Digitalisierung also wirklich helfen. Denn mit den Möglichkeiten zur Transparenz, gibt sie Konsumenten ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit Produkten. Die Industrialisierung hat uns lange nur das fertige Produkt geliefert, zu einem möglichst günstigen Preis. Dazu ein paar tolle Markenwelten und fertig. Konsumenten heute, vor allem aus den demographischen Zielgruppen Millennials und jünger, gehen bereits anders mit dem Thema um. Sie fragen aus einem ganz natürlichen Verständnis nach. Nicht, weil sie von Umweltkampagnen geprägt sind, sondern aus Interesse am Produkt und einem oft natürlichen Interesse und Verständnis von: „Was ist gut für mich und die Umwelt und was nicht.“

Digitalisierung hat hier offensichtlich dazu beigetragen, Interesse für Hintergründe und Details zu wecken. Und zwar einfach, weil es möglich ist. Dieses Interesse sorgt dafür, dass diese Zielgruppen sich zunehmend ihre eigenen Werteparameter zurecht legen. Sie vertrauen nicht mehr „einfach“ auf Umwelt- oder Biosiegel, sie bilden sich ihre eigene Meinung, nachdem was sie erkennen können und verstehen - weil es geht! Dabei entscheiden sie sich, je nach ihrer Sozialisation für eher ethische oder umweltprägende oder effiziente Produkte - teilweise auch je nach Produktkategorie oder Tagesform oder begleitender allgemeiner Berichterstattung. Diese Zielgruppen sind nicht mehr klar eingrenzbar, außer darin, dass sie „verstehen“ wollen. Und: es gibt sie sowohl im urbanen wie im ländlichen Raum. Im ländlichen Raum kommt oft noch eine starke regionale Färbung in die persönliche Betrachtung hinein. Was aber im urbanen Raum auch stark in diesen Zielgruppen zunimmt. Das „Umland“ wird hier immer wichtiger. In jedem Fall sucht man Identifikation.

Hier bestätigt sich übrigens ein Trend, den wir im Kapitel „Digitalisierung“ bereits beschrieben haben: zumindest das Augenmerk für das „Umland“, den ländlichen Raum, nimmt in den Zielgruppen ab Millennials und jünger, deutlich zu. Ein Bedarf an „Verbundenheit“ und „Herkunft“ der eigenen Spezies, wie auch an Produkten, ist hier deutlich stärker ausgeprägt als in älteren Zielgruppen, die noch vorwiegend durch die Industrialisierung sozialisiert sind. Das reicht bis hin zu einem grundsätzlich erstarkenden Interesse der urbanen Millennials am Ländlichen.


Der Handel wird zukünftig viel mehr integriertes Bindeglied zwischen städtischem und ländlichem Raum sein.

Wenn Menschen im urbanen Raum zunehmend Produkte aus der Region nachfragen, wird der Handel sich dem anpassen und diese anbieten. Hierbei ist es Menschen zunehmend auch wichtig, dass die logistischen Strukturen regional sind. Sie möchten ihre Produkte möglichst direkt und ohne Umwege geliefert bekommen, also nicht quer durch die Republik über Zentrallager. Bei dieser Idee kann auch die Digitalisierung wieder unterstützend helfen. Einmal, da der Weg als solches nachvollziehbar und messbar wird und zum anderen, da neue logistische Dienstleistungen sich intelligent zu einer nachhaltigen Struktur vernetzen können.

Der Handel könnte also die zunehmende Annäherung der ländlichen und urbanen Struktur unterstützen, indem er die entsprechenden Produkte anbietet, die Transparenz dahinter unterstützt und logistische Strukturen an die neuen Bedarfe anpasst. Damit könnte das gegenseitige Verständnis der beiden Strukturen nachhaltig unterstützt werden, was die Industrialisierung jahrzehntelang auseinander getrieben hat durch eine sukzessive Ausbeutung der ländlichen Strukturen für urbane Expansion. Das würde zumindest dem sozialen Frieden sehr entgegen kommen und die, durch die digitalen Möglichkeiten geschaffene neue Flexibilität für Arbeit und Wohnen, weiter unterstützen. Nachhaltigkeit 4.0 wird also helfen Stadt und Land wieder zu einer Einheit werden zu lassen.

Produkte sind in dieser ganzen Thematik vor allem eins: anfassbar. Sie sind nicht bloße Theorie, sondern haben eine eigene Haptik und einen eigenen Geschmack, nicht umsonst geht es bei den regionalen Interessen vor allem um Lebensmittel. Mit ihnen verbindet sich sogar eine gute Portion Stolz - auch für die Menschen im urbanen Raum. Dieser regionale Stolz ersetzt zunehmend das „anonyme“ Markenfabrikat. Produkte sind „fühlbare Region“ und die neuen Zielgruppen legen hier großen Wert darauf.


Dienstleistungen des Handels für mehr Nachhaltigkeit

Gemeinsam mit der Logistik-Branche ist der Handel in der Position neue nachhaltige Strukturen aufzubauen. Nachhaltig im Sinne von guter Erreichbarkeit, lieferbaren Zeitfenstern und keiner Benachteiligung der Strukturen auf dem Land. Das wird nicht von Anbeginn flächendeckend möglich sein, aber überall dort, wo durch die verschiedenen Einflussfaktoren, wieder mehr Menschen Richtung Land ziehen, wird nicht zuletzt der gesellschaftliche Druck für eine beschleunigte Umsetzung sorgen.

Das Produktsortiment wird stärkere regionale Bestandteile haben, wobei die Region, je nach Produkt auch großflächiger ausfallen kann. Im Lebensmittelbereich, wird es durchaus daraus gehen Produkte aus dem direkten Umfeld zu vertreiben, bei Elektroartikeln könnte durchaus eine nationale oder sogar europäische Herkunft wieder in den Vordergrund rücken. Das vor allem auch dadurch, dass bei zunehmender Technologisierung der Produktion, der Standort, da immer weniger Menschen in der Produktion arbeiten, unwichtiger wird. Dabei wird Arbeit, auch in Produktionsbetrieben, immer unabhängiger vom Standort, da sie neue Formen annimmt, zum Beispiel durch „Programmierung“ oder „Managen von Prozesse“ oder „Innovationsaufgaben“.

Einen Unterschied bei Stadt und Land gibt es zunehmend immer weniger. In beiden Bereichen werden die Prozesse wie auch die Produkte immer nachhaltiger.